Warnung, die auf der Originalausgabe vom Januar 1982 angebracht ist:   

Bevor du lösest dieses Siegel, 

bedenke bitte die Gefahr.

Denn wenn du öffnest jenen Riegel,

wird die Geschichte für dich wahr.

 

Die Wüngenstedt-Sage


Roland Schröder war unterwegs, allein auf der kopfsteingepflasterten, regenfeuchten Landstrasse von Heidkaten nach Höltenbek. Es war sehr spät geworden, was er aber in keinster Weise bedauerte. Die Geburtstagsparty eines Klassenkameraden hatte er mitgefeiert, in seinem Nachbarort Heidkaten. Eigentlich wäre Roland noch gern länger geblieben, denn die Stimmung war gut und die Leute waren nett gewesen. Aber er musste am nächsten Morgen sehr früh aufstehen, um den Bus in die Stadt zu erreichen. Dieser fuhr Sonntags nur zweimal, und an diesem Sonnabend auch nicht viel öfter. Der letzte Bus von Heidkaten nach Höltenbek war bereits vor über einer Stunde gefahren. Nur darum war Roland Schröder zu Fuss unterwegs. Der letzte Bus hatte eine tiefdunkle und vom ständigen Nieselregen genässte, kopfsteingepflasterte Landstrasse zurückgelassen. 

Zunächst noch genoss Roland die herrlich frische Luft, die herbstlich windig und norddeutsch regnerisch war. Ein willkommener Kontrast zur verbrauchten und verrauchten Gaststättenluft, die Roland nun den ganzen Abend inhaliert hatte. Noch dröhnten in seinem Kopf die Lieder, die er heute so oft gehört hatte und zu denen er mit seinen Freundinnen und Freunden getanzt hatte. In seinen Ohren vernahm er jenes feine Rauschen, das sich nach dem Genuss von lauter Musik bei plötzlich eintretender Ruhe einstellt.  

Und die war nun da. Denn die Landstrasse von Heidkaten nach Höltenbek war keine Landstrasse mit viel Verkehr. Zum einen fuhren Ende der fünfziger Jahre noch nicht so viele Autos und zum anderen hatte diese Landstrasse an Bedeutung verloren. Denn den Ort, zu dem die Strasse von Heidkaten und Höltenbek ursprünglich geführt hatte, existierte nicht mehr.  

Schwer und mächtig lag die Dunkelheit über den Äckern, Bäumen und Büschen, die hier das Landschaftsbild prägten. Die Knicks auf beiden Seiten der Strasse konnten dem Spätherbstwind, der von Zeit zu Zeit mit gewaltigem Geheule eine Regenböe vor sich herpeitschte, nicht Einhalt gebieten. Als Roland noch einmal stehenblieb und nach Heidkaten zurückblickte, sah er, wie gerade das letzte Licht erlosch, das eben noch matt ein Fenster erhellte. Den Schäferhund des Bauernhofes hörte er noch einmal wie von sehr weit her durch die dunkle Nacht bellen. 

Dies waren die letzten Laute, die er von Heidkaten wahrnehmen konnte. Hinter der Biegung, welche die Strasse jetzt machte, lag die flache Weite. Diese trennte die Orte Heidkaten und Höltenbek seit jeher. Seit jeher? 

Während Roland darüber nachdachte und über die alte kopfsteingepflasterte Landstrasse wanderte, fiel ihm plötzlich eine Geschichte ein. Eine Geschichte, die ihm seine Grosstante früher an langen Winterabenden öfter erzählt hatte. Seine Grosstante war nun schon viele Jahre tot, doch die Geschichte hatte er nicht vergessen. Denn die Grosstante hatte die Geschichte jeweils mit grossem Ernst vorgetragen. Und obwohl es nur eine Sage sein sollte, war sie für die Grosstante und auch für Roland sehr glaubhaft.  

Die Geschichte handelte genau von der Gegend, in der Roland in dieser Nacht unterwegs war. Genau von dieser kopfsteingepflasterten Landstrasse, über die sich Roland nun nach Höltenbek vorkämpfte. Ja, die Windböen waren teilweise so stark geworden, dass sich Roland mit seiner ganzen Leibesfülle, und er war nicht gerade schmächtig, dagegenstemmen musste. Ab und an rann ihm ein Wassertropfen über Nase und Wangen, der sich aus seinem durchnässten Haar gelöst hatte und über Lippen und Kinn auf seine Jacke tropfte. Roland erinnerte sich immer besser an jene Geschichte, die ihm seine Grosstante öfters erzählt hatte. Ihm war, als hörte er ihre rauhe, runzelige und doch wieder feine Stimme die Geschichte erzählen. 

Es war die Erzählung über ein Städtchen namens Wüngenstedt. Es war damals im 17. Jahrhundert berühmt gewesen für seine Heilkunst. Im späten Mittelalter war es um das ärztliche Wissen und um die Medizin in Norddeutschland nicht gut bestellt. Doch Wüngenstedt schien eine Ausnahme zu sein, denn von überall her pilgerten junge Menschen nach Wüngenstedt, um von den hier ansässigen grossen Ärzten und Gelehrten unterrichtet zu werden. Auch dem Ort selber sah man als Reisender schnell an, dass hier alles etwas anders war: In grossen Gärten und langen Reihen wuchsen die verschiedensten Heilpflanzen. Sogar exotische Kräuter wurden in beheizbaren Glashäusern gezogen. In lichtdurchfluteten Sälen wurden in kompliziert aussehenden Apparaturen aus den Heilkräutern Salben und Säfte hergestellt.  

Im 17. Jahrhundert war Wüngenstedt das Zentrum der Heilkunst in Norddeutschland. Gerade zu jener Zeit muss es passiert sein, jenes fast unglaubliche Geschehen. Was genau in jener Nacht im Spätherbst geschah, weiss niemand genau. Doch die Menschen von Höltenbek und Heidkaten, die am nächsten Morgen nach Wüngenstedt kamen, fanden nur verkohlte Holzbalken, zerbrochene Mauerziegel und dampfende Erdmassen vor. Den herbeigeströmten Nachbarn war sofort klar, dass so eine Zerstörung niemals von Menschenhand möglich gewesen war. Die gesamte Stadt war mitsamt ihren Einwohnern von der Erde verschluckt worden. Ein andere Erklärung gab es für die Menschen von Heidkaten und Höltenbek nicht. Denn es wurden keine Leichen gefunden und auch keinerlei Hinweise, die das unglaubliche Geschehen hätten erklären können. Die kopfsteingepflasterte Landstrasse zwischen Heidkaten und Höltenbek endete in einem Trümmerfeld aus aufgewühlten Erdhaufen und Pflastersteinen. 

Es ging das Gerücht um, Wüngenstedt sei in eine andere Welt versunken. Denn Einwohner von Höltenbek und Heidkaten hatten in jener Spätherbstnacht ein ungewöhnliches Geräusch gehört: Das Geräusch eines mächtigen, schweren Tores, in dem das Widerhallen und Rauschen eines riesigen Saales zu hören war. Gleichzeitig soll das Schlagen einer riesigen Pauke zu hören gewesen sein, welche in dem grossen Saal widerhallte. Begleitet wurde das Ganze von heftigem Regen, grellen Blitzen und farbigen Wetterleuchten. Immer stärker soll ein tiefes Grollen dazugekommen sein, das tief aus der Erde zu kommen schien. Es vermischte sich mit heftigen Donnerschlägen, orkanartigen Böen und einem Geräusch brodelnder Erdmassen. Eine brodelnde, zähe Masse. Nach einigen Minuten wurden die Geräusche leiser, die Blitze schwächer und es klang, als würde sich das riesige Tor wieder schliessen. 

Es kamen viele Forscher und Gelehrte an den Ort, der einst Wüngenstedt war. Doch ausser einigen verkohlten Holzbalken und Mauerresten fanden auch sie nichts. Die Jahre vergingen, und mangels konkreter Hinweise nahm auch das Interesse an Wüngenstedt und seinem plötzlichen Ende ab. Die Einwohner von Höltenbek und Heidkaten reparierten die zerstörte Landstrasse und schon ein paar Jahrzehnte später erinnerte nichts mehr an das Städtchen Wüngenstedt. Ja, es gab immer mehr Leute, für die Wüngenstedt niemals existiert hat und die die Geschichte vom versunkenen Wüngenstedt als Sage abtaten oder gar als Lüge.

Bis Ende des 19. Jahrhunderts schlummerte die Erinnerung an Wüngenstedt nur vage in den Köpfen der Höltenbeker und Heidkatener. Doch im Spätherbst 1897 bekam die Geschichte wieder eine ungewollte Aktualität. 

Roland Schröder schluckte einmal kräftig und fühlte, wie ein Schaudern über seinen Rücken lief. Sein Herz schlug schneller als sonst, und das nicht nur wegen der starken Windböen. Die Geschichte von Wüngenstedt und die Umstände des Verschwindens waren ihm wieder bewusst geworden und beschäftigten ihn. Er vergrub seinen Hals noch tiefer im aufgeschlagenen Kragen seiner Jacke und bohrte die Hände noch tiefer in seine Taschen. Der Wind drehte noch stärker auf und auch der Regen wurde immer heftiger.  

Ganz ähnlich muss es auch im Spätherbst 1897 gewesen sein. Das war nämlich die Geschichte, die ihm seine Grosstante immer wieder mit grossem Ernst erzählt hatte. Es war eine Gruppe von Höltenbeker Bauernjungen gewesen, die auf einem Scheunenfest in Heidkaten den ganzen Abend getrunken und getanzt hatten. Müde vom Feiern und erfrischt von der windigen Herbstluft stapften sie auf der regennassen, kopfsteingepflasterten Landstrasse zurück nach Hause. Der Wind nahm unmerklich und doch stetig zu und die Regenböen schnitten ihnen ins Gesicht. Das Brausen des Sturmes wurde so laut, dass es unmöglich wurde sich zu unterhalten. Ausserdem brauchte jeder seine Kräfte für sich selber, denn ein Vorwärtskommen wurde im heulenden, regenschwangeren Sturmwind immer schwieriger. 

Rolands Gedanken fingen an, sich loszulösen und durcheinander zu stürzen. Immer wieder zwang es sich, klare Gedanken zu fassen und sich nicht von der Angst überwältigen zu lassen. Er hatte eigentlich nicht viel getrunken auf der Party und war auch sonst kein ängstlicher Typ. Aber der nächtliche Regensturm und die geschichtsträchtige Umgebung liessen seine Gefühle durcheinander geraten. Der heftige Gegenwind machte jeden Schritt zu einem Kraftakt. Wie eine brodelnde, zähe Masse. Roland Schröder zuckte zusammen bei dem Gedanken: Wie eine brodelnde, zähe Masse. Hatte nicht auch seine Grosstante so über das Verschwinden von Wüngenstedt berichtet? Nur schwer konnte Roland sich zwingen, nicht loszuschreien oder wie wahnsinnig davon zu rennen. Aber das wäre bei dem Wind auch gar nicht so einfach gewesen, ausser, er wäre umgekehrt. Aber inzwischen war er wohl von beiden Orten gleichweit entfernt, in der Mitte zwischen Höltenbek und Heidkaten. War das nicht der Ort gewesen, wo in jener Spätherbstnacht bei Sturm und Regen Wüngenstedt versank?  

Roland Schröder wusste nicht, ob es der Regen oder der Angstschweiss war. Jedenfalls war er durchnässt und in seinem Kopf begann es sich zu drehen. Die Angst des Wahnsinns machte sich in ihm breit. In seinen Ohren begann ein Brodeln und Brausen und wurde immer lauter. Durch das Getöse des Windes hindurch vernahm er ein dumpfes, langsames Schlagen einer riesigen Pauke, das näher kam. Ein Geräusch, wie wenn jemand ein mächtiges Tor öffnet mit einem grossen Saal dahinter, drang an seine Ohren. Die Paukenschläge hallten im mächtigen Saal und entfesselten Blitze und farbige Wetterleuchten. Roland hatte plötzlich das Gefühl, die Erde unter ihm würde nachgeben. Von ganz weit unter ihm hörte er ein lautes Brodeln. Roland spürte, wie er immer tiefer versank und die brodelnden Erdmassen ihn verschlangen. Und plötzlich war alles um ihn herum Tiefschwarz. 

Wie lange er in diesem Tiefschwarz gewesen war, wusste Roland später nicht mehr. Nur, dass er irgendwann von weither eine Stimme hörte. Eine Frauenstimme, die immer näher kam. Von weit hinten tauchte nun auch ein verschwommenes Gesicht dazu auf, das zusehends deutlicher wurde. Das Gesicht passte zu der Stimme und hatte eine weisse Haube auf dem Kopf. „Roland. Roland Schröder“, hörte er die Frau sagen. „Alles ist gut, alles noch einmal gut gegangen.“ 

Erst sehr langsam begriff Roland, dass er im Krankenhaus lag. Es dauerte noch einige Tage, bis Roland wieder ganz gesund war. Denn er hatte etwa fünf bis sechs Stunden in der kalten Nässe des Kopfsteinpflasters zwischen Höltenbek und Heidkaten gelegen. Der Molkereiwagen hatte ihn am nächsten Morgen gefunden und sofort ins Krankenhaus nach Barmstedt gefahren. 

Für Roland wurde die Nacht im Spätherbst zum unvergesslichen Erlebnis, aber nicht im positiven Sinn. Er fragt sich bis heute, was er dort draussen beim ehemaligen Wüngenstedt eigentlich erlebt hat und was sich wirklich abspielte in jener Spätherbstnacht Ende der fünfziger Jahre.


Wüngenstedt im Herbst 2018