Geschichten
Was so alles in Goisenheim passiert:
Hier gibt es die ganze Titelseite zu lesen:
Und hier eine weitere Ausgabe des Goisenheimer Abendblattes, vom 18. August 1970:
Erlebnisbericht eines 1:87-Lokführers im Grenzwelt-Alltag
Wie in einem Super-Acht-Film
Helle Streifen tanzen im ganzen Raum. In regelmässigen Abständen gleiten sie über die farbigen Tapeten. Jedes Mal der Wechsel von dunkel und hell, von Licht und Schatten. Wie ein Super-Acht-Film ziehen sie vorbei. Seufzend stehe ich auf und ziehe die schweren Vorhänge zurück. Auch die schönen Momente haben ein Ende, denke ich und schlurfe in die Küche. Am Tisch steht bereits ein warme Tasse Tee auf dem Tisch. Wenigstens etwas. Mit abwesendem Blick blättere ich durch die heutige Zeitung. Die Schlagzeile des Tages lautet: «Gespenster-Alarm: Gestalt mit weissem Gewand auf Dach gesichtet!». Haben die nichts besseres zu berichten, denke ich müde. Wie immer lese ich nur das Kinoprogramm. Schmunzelnd betrachte ich das Filmplakat für den Film "Pippi in Takatuka-Land". Wie schön es nur wäre, einmal Pippi zu sein, denke ich.
Als ich plötzlich an kaltem Tee nippe merke ich erst, wie spät es schon ist. Hastig ziehe ich mir ein frisches Hemd über und verlasse die Wohnung. Wie jeden Morgen gehe ich an dem verrosteten alten T1 an der Strassenecke vorbei. Eigentlich schade, ein solch schönes Auto so zu behandeln. Als ich das Bimmeln des Bahnübergangs höre, beginne ich zu rennen und schaffe es gerade noch rechtzeitig auf die Zahnradbahn zur Gächlisalp. Endlich im Zug betrachte ich die vorbeiziehende Landschaft und geniesse das Rattern des Zuges. Mein Blick schweift nach draussen, als ich plötzlich ein weisses Pferd mit einem rothaarigen Mädchen, welches auf seinem Rücken balanciert, entdecke. Wenn das mal nicht Pippi Langstrumpf ist, denke ich grinsend. Nach einer grossen Kurve um den wunderschön gepflegten Birkmühlenhof beginnt die atemberaubende Fahrt auf das Goishorn. Schon als Kind faszinierte mich die unglaubliche Steigung, die der Zug mithilfe eines Zahnradsystems erklimmen kann. Von dieser Höhe sieht man bis weit nach hinten ins Fliedertal, welches einst durch den Fliedergletscher entstand. Nur der Fliedersee erinnert heute noch an den Eisriesen. Eine eisige Bise kommt mir entgegen, als sich die Türen der Bahn öffnen. Kurzerhand ziehe ich den Reissverschluss bis zum Kinn und gehe zur Seilbahnstation
Wie jeden Morgen geniesse ich vor der Arbeit eine Tasse Getreidekaffee im kleinen Café der Seilbahnstation. Noch hat es hier nur wenige Menschen. Aus Erfahrung weiss ich aber, wie voll es hier an sonnigen Tagen wie diesem sein kann. Nachdem ich den letzten Schluck des heissen Getränks genossen habe, ist es Zeit für meine erste Schicht. An der Bahnstation treffe ich bereits meinen Kollegen, welcher mir lächelnd den Schlüssel und das Fahrtenbüchlein übergibt. "Alles ruhig" meint er schmunzelnd und lässt mich alleine zurück. Mit geübten Bewegungen steige ich die schmale Leiter in den Führerstand empor. Als ich alles eingerichtet habe und der Zug bereit zum Losfahren ist, bin ich wieder einmal unglaublich froh, dass ich diesen Job machen darf.
Seit bereits fünf Jahren habe ich das Privileg diese wunderbaren Strecken zu befahren. Die Morgenschicht mag ich am liebsten. Wenn die Sonne über den Hügeln aufgeht und die Landschaft mit goldenem Licht überzieht. Als die Uhr 13:00 zeigt übergebe ich den Zug meinem Kollegen und geniesse einen Burger am Imbissstand am Fliedersee. Obwohl es heute noch leicht kühl ist, tummeln sich bereits unzählige Badegäste um das sandige Ufer.
In der zweiten Schicht, darf ich die S-Bahn übernehmen. Schon seit meiner Kindheit haben mich diese blauen Wagen fasziniert. Deshalb bin ich umso stolzer, die 471er fahren zu dürfen. Mit einem lauten Knacken schliesse ich die Tür zum Führerstand und atme den vertrauten Geruch von lackiertem Holz, Metall und benutztem Bremsbelag ein. Als sich meine Finger um den kalten braunen Holzhebel schliessen und sich die Wagen langsam in Bewegung setzen, gilt meine volle Konzentration der Strecke vor mir. Vom Bahnhof Goisenheim leiten die Schienen den Zug in den grossen Tunnel des Goishorns. Als er aus der Dunkelheit rollt, und sich meine Augen an die Sonnenstrahlen gewöhnt haben, schweift mein Blick über die Stadt. Die Fahrt über die Brücke ist geprägt vom Spiel von Licht und Schatten, die ihren Weg durch die eisernen Streben suchen. Schliesslich bremse ich den Zug am Bahnhof Eidelhausen. Obwohl diese Station noch relativ nahe an der Stadt liegt, ist ihr Charakter doch ein ganz anderer. Die Luft ist gekennzeichnet vom Duft nach Heu und Wildblumen. Aus dem rötlichen Belag wachsen kleine Büschel von Löwenzahn. Als ich aus dem Führerstand steige und zum Gegenüberliegenden gehe, dringt das Geräusch von Holz, dass gehackt wird, an mein Ohr.
Nach meiner letzten Fahrt für den heutigen Tag klettere ich müde, aber erfüllt von wunderbaren Bildern, die Stufen hinab. Vorbei an der Schlosserei mache ich mich auf den Heimweg und kaufe noch einige frische Äpfel beim Marktladen. Beim Abendessen senkt sich die Sonne bereits und taucht die sanften Hügel in oranges Licht. Ich beschliesse, noch ein kleines Bier in der Goisenbar zu nehmen. Dort herrscht bereits fröhliche Tanzstimmung, als ich auftauche. Die Musik und das Gelächter dröhnen schon von weitem durch die Strassen.
Als mein Glas leer ist, trete ich auf die dunkle Strasse. Die Häuser erscheinen jetzt fast blau im Licht des Vollmondes. Beim Kino studiere ich die Zeiten der Vorführungen. Beim Weitergehen richtet sich mein Blick auf das Dach des Kinos. Mein Herz bleibt beinahe stehen, als ich eine weisse Gestalt entdecke. Beinahe denke ich, dass die Zeitung Recht hatte. Aber in diesem Moment schaltet sich zum Glück wieder mein Verstand ein und ich erkenne eine schlafwandelnde Frau in ihrem Nachthemd. Erleichtert setzte ich meinen Weg fort. Aus der Kristallgrotte blitzen einige kleine Lichtpunkte von Taschenlampen. Beim Schliessen des Schlafzimmerfensters atme ich noch ein letztes Mal die kühle Nachtluft ein. Mit dem Gedanken, ja nicht Schlafzuwandeln und einem Kopf voller Bilder, fallen meine Augen schliesslich zu.
Der Schmuggler
Kristallene Kügelchen schmücken den Boden der Stadt. Erfüllen die Luft mit silbernen Klängen und werden von kupfernen Schlangen gefressen. Die Landschaft strahlt von unten in mein Gesicht. Die durchnässten Schuhe klatschen im Takt der Regenmusik über den schimmernden Asphalt. Ein Blitz zuckt über den aschgrauen Himmel. «Was für ein Shitwetter!» denke ich mir und ziehe mir meine schwarze Mütze noch tiefer ins Gesicht. Die Strassenlaternen werfen lange Schatten auf die heruntergekommenen Fassaden. Das Klappern eines Kieselsteinchens lässt mich aufschrecken. Verunsichert blicke ich mich um. Niemand zu sehen. Trotzdem beschleunige ich meine Schritte, wobei meine Hose von den aufgeschleuderten Tröpfchen verschönert wird. Das kühle Nass läuft mir am Ärmel meiner mittlerweile tiefgrauen Jacke herab und vermischt sich mit dem Schweiss, welcher sich um den Griff des Koffers abgelagert hat. Bei jedem Abrollen schlägt mir die untere Kante des Quaders unangenehm an das Schienbein. Erneut drehe ich den Kopf nach hinten. Im Augenwinkel meine ich nun eindeutig eine Gestalt wahrzunehmen. «Also doch!».
Angestrengt gehe ich im Kopf die nächsten Abzweigungen durch. Ich muss den Verfolger oder die Verfolgerin so schnell und unauffällig wie möglich loswerden. «Der Bahnhof!» schiesst es mir durch den Kopf. «Um 21.38 Uhr sollte doch die S-Bahn Richtung Fliedersee abfahren…» Ein Blick auf meine Taschenuhr verrät mir, dass ich es ziemlich genau schaffen könnte, in den Wagen einzusteigen, ohne das mir jemand noch folgen kann, da der Zug genau dann abfahren sollte. «Alles auf eine Karte und hoffen, dass die Bahn den Fahrplan wenigstens heute im Griff hat!». Schon rückt das guterhaltene Bahnhofsgebäude in mein Blickfeld. Der Zug steht schon da. Abermals erhöhe ich mein Tempo. Beginne zu rennen. Ich kneife die Augen gegen den prasselnden Regen zusammen. Der Schein der Strassenlaternen verzieht sich zu hellen Streifen und formt mit seinen Nachbarn eine kleine Sonne.
Noch gute zehn Meter bis zum letzten Wagen. Meine Lunge brennt, doch ich zerre die letzten Reserven aus meinem Körper, strecke meine zitternde Hand nach dem Knopf aus, im Spiegel der Scheibe meine ich den Verfolger ausmachen zu können. Panisch drücke ich erneut, doch nichts geschieht. «Mist! Und nun?». Plötzlich hallen meine Schritte durch die Unterführung. Der Instinkt scheint übernommen zu haben. Das Ende des Bahnsteiges auf der anderen Seite rückt immer näher. An der Kante bleibe ich schliesslich schwer schnaufend stehen. Hoffnungslosigkeit macht sich in mir breit. Es scheint, ich muss mich dem Verfolger stellen. Ich straffe meine Schultern und will mich umdrehen, da fällt mein Blick auf ein verrostetes Fahrzeug ein Stückchen weiter nach links. Ohne zu zögern jogge ich darauf zu und greife nach dem Türgriff. Zu meiner Überraschung sitze ich plötzlich in dem T1-ähnlichen Schienenbus.
Schnell finde ich den Anlasser und schon setzt sich die Draisine rumpelnd in Bewegung. Immer schneller zieht die Landschaft an den verschmutzen Scheiben vorbei. Erst als ich die erste Weiche passiere, wundere ich mich, dass ich noch nicht zwangsgebremst wurde. Als die Schiene eine Kurve zu schreiben beginnt, konzentriere ich mich wieder auf das Fahrzeug. Hinter mir kippt der Koffer vom Sitz und lässt mich kurz zusammenzucken. Als ich von der kühlen Dunkelheit des Tunnels eingehüllt werde, beruhigt sich mein Herzschlag. Eine Verfolgung bis hierhin ist ausgeschlossen, ich muss ihn abgehängt haben. Trotzdem bleibt das ungute Gefühl auf dem Beifahrersitz sitzen. Ich öffne das Fenster und lausche angestrengt in das tosende Gemisch aus Hall und Motor und plötzlich ist es wieder hell. Vor mir erstreckt sich die aufgewühlte Oberfläche des Fliedersees. Schäumend nagt er am Ufer. Ein Schauer läuft mir den Rücken hinunter. Ich merke erst viel zu spät, dass das schnurrende Geräusch des Motors verklungen ist. Ängstlich blicke ich auf die Benzinanzeige, doch ihre Nadel zeigt noch auf gute 50 Prozent. Sie haben mich entdeckt, schiesst es mir durch den Kopf. Panisch greife ich nach dem Koffer und springe aus dem noch rollenden Bus. Hart schlagen meine Füsse auf dem groben Schotter auf.
Suchend schaue ich mich nach einer geeigneten Deckung um, sehe aber nur den schmatzenden See. Schliesslich gehe ich den eisernen Schlangen bis zu den steinernen Bögen entlang. Diese bieten wenigsten etwas Schutz vor dem beissenden Regen, denke ich pragmatisch. Der Plan ist sowieso ziemlich daneben gegangen. Eigentlich wollte ich doch bloss… ach spielt doch jetzt auch keine Rolle mehr. Zu spät bin ich ja auch. Ein lautes Krachen schreckt mich aus meinen Gedanken hoch. Als ich mich umdrehe, muss ich zusehen, wie der T1 immer näherkommt. Ich kann jedoch keine Person erkennen, welche den Wagen steuern könnte. Nicht schon wieder rennen, denke ich panisch und müde zugleich und wende mich aber trotzdem zum Gehen um. Da gehen auf einmal alle Lichter an. Der ganze Bus erstrahlt in einem warmen Gelb. Lautes Gelächter und ein mir bekanntes Lied durchdringen die kühle Luft. Erstaunt halte ich inne und kneife meine Augen zusammen, um etwas genauer sehen zu können. Nein, das kann nicht sein, einfach unmöglich! «Alles Gute zum Geburtstag!» jubelt die Menge und endlich kapiere ich, was los ist.